Die Bilder aus der afghanischen Hauptstadt Kabul sind erschreckend. Menschen stürmen das Flugfeld, klettern auf Flugzeuge, um doch noch einen Platz auf einem Evakuierungsflug der internationalen Staatengemeinschaft zu ergattern und vor den heranrückenden Taliban zu flüchten. Der Flugbetrieb musste sogar kurzzeitig eingestellt werden, weil die Menschen auf der Rollbahn waren und sich an den Rädern und Flügeln der Transportmaschinen klammerten.
Ein Bild ging dabei um die Welt, das die Verzweiflung der Menschen zeigt. Der Frachtraum einer amerikanischen Boeing C17 Transportmaschine, die bis zu 77 Tonnen an Ladung aufnehmen kann, zeigte sie voll gestopft mit Menschen. Die Flugbesatzung wusste nicht, wie viele Menschen an Bord waren, sie schätzte die Zahl auf 800, am Ende waren es immer noch unfassbare 640, die in Taschkent aus dem Flugzeug stiegen.
Wie die Fachzeitschrift Defense One berichtet, hatte die US Crew die Entscheidung angesichts der Situation getroffen:
Die C-17 mit dem Rufzeichen Reach 871 hatte nicht die Absicht, eine so große Ladung aufzunehmen, aber in Panik geratene Afghanen, die zur Evakuierung freigegeben worden waren, zogen sich auf die halboffene Rampe der C-17, sagte ein Verteidigungsbeamter.
Anstatt zu versuchen, die Flüchtlinge aus dem Flugzeug zu drängen, traf die Besatzung die Entscheidung zu gehen”, so ein Verteidigungsbeamter gegenüber Defense One. “Ungefähr 640 afghanische Zivilisten verließen das Flugzeug, als es an seinem Ziel ankam”, so der Verteidigungsbeamte.
Evakuierungslisten
Auch die Deutsche Bundeswehr schickte Transportmaschinen nach Kabul. Die Lage vor Ort erschwerte allerdings die Situation. Erst nach fünfstündigem Kreisen über Kabul konnte der Airbus A400M der deutschen Luftwaffe, der bis zu 37 Tonnen an Ladung aufnehmen kann, endlich landen und nahm sage und schreibe 7(!) Personen auf, die er nach Taschkent flog. “Sie wollten nichts riskieren”, wurde einer der Ausgeflogenen zitiert, der von den Listen der Bundeswehrsoldaten sprach, die nur Leute aufnehmen durften, die auf der Liste standen. Weil die Lage so unsicher gewesen war, konnte viele Personen, die auf der Liste standen, nicht so kurzfristig zum Flughafen kommen, da auf dem Weg dorthin mehrere Taliban-Kontrollposten zu passieren sind.
Anstatt nun andere Flüchtlinge, eventuell bevorzugt besonders gefährdete Frauen und Kinder, einfach so mitzunehmen und evakuieren, berief man sich scheinbar mit deutscher Gründlichkeit auf die Listen. Merke: die Liste geht nach wie vor vor Menschlichkeit. Offiziell wird anderes kommuniziert: aufgrund der kurzen Zeit sei es nicht möglich gewesen, aus dem zivilen Bereich des Flughafens Afghanen herzubringen und mitzunehmen.
Impflisten
Zur Abweisung von Menschen, die nicht auf einer Liste stehen, haben wir in den letzten Monaten einiges gehört. Berichte von Impfzentren, die angemeldete Impfwillige das Corona-Vakzin vorenthielten, füllten die Nachrichten. Einmal war das Impfzentrum nicht benachrichtigt worden, und die Impfberechtigte wurde trotz schriftlicher Bestätigung weg geschickt, ein andermal hatte der lokale Oberbürgermeister die Weisung ausgegeben, Ortsfremde trotz Anmeldung wegzuschicken und das Impfzentrum damit in die Hektik getrieben, doch noch lokale Impfwillige zu finden, damit der aufgetaute Impfstoff nicht vernichtet werden muss. Bei anderen Impfzentren wurde bei fehlender Dokumentation, ob die impfwillige Person zur Berechtigungs- oder Risikogruppe gehörte, im Zweifelsfall gegen die Person entschieden.
Todeslisten
Man sieht schon, egal wie man’s dreht, auch hier können sich Listen tödlich für die Weggewiesenen auswirken.
Im Machen von Listen waren wir schon immer gut. Das Nazi-Regime übertraf sich darin, Listen von Juden, Sinti, Roma und anderen Bevölkerungsgruppen zu erstellen, die sie ausrotten wollten. Und das mit penibler Effizienz und Tödlichkeit. Für die Beteiligten schien es einfach, die Schuld einfach auf die nächsthöhere Instanz zu schieben. “Er hat’s mir doch befohlen”, wie das Gemeinschaftsorgan der ÖVP, SPÖ und KPÖ Neues Österreich im besetzten Österreich treffend illustrierte.

“Er hat mir`s doch befohlen!”
Neues Österreich, 20. Juli 1946
Vermutlich von Siegfried Weyr
Wie sehr diese Listen wirkten und man ihnen gehörig ist, merken wir dann, wenn sie jemand gegenteilig einsetzt. So schildert der Film Schindlers Liste wie der Fabrikant Oskar Schindler eine immer größer werdende Liste an jüdischen KZ-Häftlingen für den Einsatz in seiner Fabrik anlegt, um sie vor der Verfolgung und dem sicheren Tod der Nazi-Schergen zu schützen.
Zivilcourage
Oskar Schindler hatte damals Zivilcourage gezeigt, auch wenn er das scheinbar nicht so geplant gehabt hatte. Zivilcourage: ein Wörtchen, dass scheinbar aus der Mode geraten ist. Diese erfordert neben Mut auch Spontaneität und das Übernehmen von Verantwortung in einer Situation, die unberechenbar und gefährlich ist und Flexibilität verlangt. Sagte einem früher der Führer, wo’s langgeht, und in seiner Vertretung die ominösen und präzis wirkenden Listen, so sagt es uns heute der Computer mit seinen Listen. Damals wie heute gab man das Denken an andere ab.
Was wäre das Schlimmste gewesen, was der Bundeswehr Crew hätte zustoßen können, wenn sie ein paar hundert Afghanen mitgenommen hätten? Vielleicht wären sie gemaßregelt worden, vielleicht hätten sie ihren Job verloren. Das Leben, so wie Sophie Scholl und andere, aber sicherlich nicht. Und wenn es schon an Zivilcourage fehlt in einer klaren humanitären Aktion, dann braucht man sich nicht wundern, warum es in Deutschland heute an Mut fehlt, Innovation zu machen und Unternehmen zu gründen. Es gibt ihn ja nicht mal, wenn wirklich etwas am Spiel steht.
Mario, Du sprichst mir aus der Seele!