Ist ‚Dataismus‘ als angebliche Pseudoreligion Feind ‚richtiger‘ Religionen?

Angeblich verdoppelt sich alle zwei Jahre die von Menschen in der gesamten Menschheitsgeschichte erzeugte Datenmenge. In den nächsten 24 Monaten werden wir so viele Daten erzeugen, wie die Menschheit seit ihrem Anbeginn. Das kann schwindlig machen, und ist für uns nicht mehr wirklich erfassbar. Daten sind zu einer wichtigen Währung im Getriebe unseres Lebens geworden, ohne sie wäre modernes Leben nicht mehr möglich. Kein Wunder, dass Daten – oder genauer gesagt der „Lult um Daten“ die Aufmerksamkeit von Dichtern und Denkern erregt.

So widmete sich „LOGOS – Glauben und Zweifel“, ein Sendeformat des österreichischen Radiosenders Ö1, dem Thema der künstlichen Intelligenz. In die Sendung Wie künstliche Intelligenz unser Denken verändert war der Philosoph, Theologe und Publizist Christoph Quarch eingeladen.

Und weil der israelische Historiker Yuval Noah Harari in seinem Bestseller Homo Deus medienwirksamen Begriff Dataismus eingeführt hatte, der – vereinfacht gesagt – die Denkweise beschreibt, die Daten huldigt, ging es auch gleich um dieses Thema. Dataismus sei somit so etwas wie eine neue Religion oder Götzenanbetung, in deren zugrundelegendem Element – den Daten – die alleinige Weisheit und Heilsbringung sehe.

Dass neuen Technologien gern religionsähnliche Eigenschaften zugeschrieben werden, ist nichts Neues. Wer hat nicht noch die Rede vom „Automobil als modernen Götzen“ in Erinnerung, dem wir alles unterwerfen? Unsere Städte, unsere Umwelt, unsere Finanzen und auch unser Leben, indem wir Unfälle einfach hinnehmen. Eine andere Qualität erhalten neue Technologien, wenn sie nicht einfach zu verstehen sind, ja magische Formen annehmen. Dazu hier ein Absatz aus meinem im August 2021 erscheinenden Buch Future Angst:

Die widersprüchliche Art und Weise, wie Technologien aufgenommen werden, lässt sich auf mehrere Eigenschaften einer Erfindung zurückführen. Noch bis zu Galileo Galileis Zeiten haftete Maschinen etwas Magisches an. Maschinen konnten nur qualitativ bewertet werden, es fehlte am physikalischen und mechanischen Grundwissen, um sie in Zahlen zu gießen und somit quantitativ zu erfassen. Erst damit war es möglich, effizient zu planen und zu entwickeln. Bis dahin gab es ziemliche Verwirrung, was Mechanik und was Magie war. Das Konzept, Maschinenkraft zu verwenden, um einfache Arbeitsvorgänge zu erledigen, wurde als etwas betrachtet, das die Natur ‚austrickste‘. Ein Maschinenbauer war somit eine Person, die magische Kräfte hatte. In der [..] Oper ‚Hoffmanns Erzählungen‘ wurde mit diesem Klischee gespielt, indem E.T.A. Hoffmann dem Erfinder Spalanzani in Anlehnung an den italienischen Universalgelehrten Lazzaro Spallanzani diese Rolle zuordnet.

Auch das Anfang 1800 noch schlecht verstandene Phänomen der Elektrizität fand durch Mary Shelleys Roman Frankenstein einen quasi-religiösen Status, indem ihr Leben schaffende Kraft zugewiesen wurde. Etwas, das man sonst nur Göttern zugesteht. Zweihundert Jahre später haben wir ähnliche Reaktionen auf Technologien und Entdeckungen, die wir nur schwer verstehen, nicht abgelegt. Und diesmal handelt es sich um künstliche Intelligenz, und in Annäherung dazu den ihr zugrundeliegenden Daten. Von Superintelligenzen ist die Rede, die intelligenter sein wird als wir Menschen, und uns zu unterjochen oder gar auszumerzen versucht oder versuchen könnte. Und wenn schon nicht das, dann wird sie unser Denken nicht nur verändern, sondern uns das Denken auch abnehmen. So jedenfalls warnt Christoph Quarch, der in die Rolle des Moralunternehmers schlüpft.

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In der erwähnten 25-minütigen Sendung sorgt er sich nicht nur vor der Übernahme des Denkens durch Maschinen und unserer unkritischen Einstellung dazu, er warnt auch davor, dass der Mensch damit den Daten (und der KI) einen Stellenwert einräumt, den Yuval Harari und er, Christoph Quarch, als Anmaßung der Göttlichkeit des Menschen durch die Schaffung einer neuen Religion – dem Dataismus – sehen.

Ein in zweifacher Hinsicht starker Tobak, der erschrecken kann und soll. Doch stimmt das so? Leider hatten die Radiomacher keine KI-Experten in die Sendung eingeladen, die vielleicht eine andere Perspektive einbringen hätten können. Der Gedankengang war vermutlich, dass eine Person, die sich tagein-tagaus mit dem Thema beschäftigt, nichts Tiefschürfendes genau dazu zu sagen habe, dafür aber ein Historiker und ein Philosoph. Wer käme auf die Idee, bei einer Sendung über das Radiomachen einen Radiomacher einzuladen? Nur Historiker und Philosophen haben dazu Tiefschürfendes zu sagen. Nicht, dass ist behaupten möchte, Historiker und Philosophen hätten zu verschiedenen Themen, die uns beschäftigen und betreffen, nichts zu sagen, ganz im Gegenteil. Ihre einzigartige Perspektive lässt uns anderes darüber denken. Aber man sollte auch schon jemanden auch aus dem jeweiligen Fachgebiet hinzuziehen, der das auch nochmals aus seiner íhrer Sicht betrachten kann.

Doch gehen wir mal auf die beiden, der Sendung als Leitmotiv geltenden, Prämissen ein. „Überlassen wir das Denken den Maschinen?“ und „Schaffen wir damit eine Pseudoreligion?“

Überlassen wir das Denken den Maschinen?

Wenn wir uns mit einer solchen Behauptung beschäftigen, können oft eine kontrafaktische Herangehensweise oder die Recherche nach Analogien helfen. In diesem Fall könnten wir uns heute selbstverständlich erscheinende Technologien betrachten, und recherchieren, wie diese von den Menschen damals betrachtet worden sind.

So behauptet ein Kommentator im Sunday Advertiser, einer Zeitung aus Hawaii, vom 18. Jänner 1908 folgendes:

Vergessen Sie nicht, wie man läuft
Die Straßenbahn, das Auto und die Bahn haben die Fortbewegung so einfach gemacht, dass die Menschen nur noch selten zu Fuß gehen. Sie fahren zum Geschäft, zum Theater, zum Laden, zum Urlaubsort, vom Land in die Stadt, von einer Straße zur anderen, bis das Gehen fast eine verlorene Kunst geworden ist. In ein oder zwei Generationen werden wir vergessen haben, wie man seine Beine benutzt. Der Mensch ist von Natur aus ein Lauftier.

Moderne Transportmittel übernehmen das Gehen und wir werden den Gebrauch unserer Beine vergessen. Klingt das bekannt? Aber das war ja nicht die erste Befürchtung in dr Geschichte der Menschheit, dass wir eine wichtige Fähigkeit verlieren werden? Das Schreiben wurde im alten Griechenland als etwas betrachtet, dass das Erinnern und Auswendiglernen, also den Gebrauch unseres Gedächtnisses bedroht. Oder in der Steinzeit, und damit meine ich die 1990er Jahre, war die Mikrowelle etwas, von der Gefahr drohte. Hier wieder ein Auszug aus meinem Buch Future Angst:

Eine Reportage aus der Los Angeles Daily News aus dem Jahr 1990 berichtet vom 13-jährigen Brian, der der Journalistin erklärt, wie er sein Hotdog in ein Brot klemmt, in ein Tuch einwickelt und dann in der Mikrowelle erhitzt. Der Zeitungsartikel beklagt daraufhin, dass die heutige Jugend sich Essenszubereitung ohne Mikrowelle nicht mehr vorstellen kann und damit wichtige Fähigkeiten wie beispielsweise die Zubereitung eines Hotdogs auf einem Grill verloren gingen. Abgesehen davon, dass man einen 13-Jährigen vielleicht gar nicht unbeaufsichtigt an einem Grill hantieren lassen möchte, erledigt die Mikrowelle doch genau die Aufgabe, die sie soll. Das Essen wurde erwärmt. Wo ist das Problem?

Doch die Klagen gehen weiter. Klettverschlüsse würden das Lernen des Bindens von Schnürsenkeln verhindern. Die Handschrift würde verloren gehen, weil man keine Telefonnotizen mehr machen müsse, da der Anrufbeantworter die Sprachnachricht aufnimmt. Die Liste an Klagen und Warnungen ließe sich beliebig fortsetzen.

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Wir verlieren keine Fähigkeiten. Unsere Fähigkeiten verändern sich mit den Technologien. Auch können wir mehr mit weniger erreichen, damit ist der Vorwurf, neue Technologien machen uns fauler, entkräftet. Weil die Bauern nun einen Stiel an der Sichel hatten, konnten sie doppelt so schnell ein Feld abernten und dabei ihre Rücken schonen. Sind sie damit fauler geworden? Haben sie damit die Fähigkeit verloren, eine Sichel zu schwingen? Wohl kaum. Es gibt allerdings doch einige Fähigkeiten, die wir verloren haben, diese aber weniger, weil neue Technologie sie ersetzten, sondern weil es politische und soziale Umbrüche gegeben hatte, sodass das Wissen darüber verloren ging. So wissen wir heute nicht mehr genau, wie der berühmte Damaszener Stahl mit seinem charakteristischen Wellenmuster auf einer Messerklinge und seiner Qualität, der schon vor zweitausend Jahren bekannt war, hergestellt wurde. Eine Anleitung hatte niemand niedergeschrieben, weder in Keilschrift noch in Sütterlin. Die einzige Angst, die wir haben sollten, ist die, dass wir Fähigkeiten und Technologien nicht ausreichend für die Nachwelt dokumentieren.

Verlieren wir also damit unsere Fähigkeit zu denken? Wohl kaum. Künstliche Intelligenz nimmt uns diejenige Denkarbeit ab, die langweilig und wiederholend ist, und die die Maschine auch viele schneller erfüllen kann. Sie schaufelt uns dabei die Zeit frei, dass wir das tun, was die Maschine heute nicht kann: die Frage nach dem Warum, der Kausalität, dem Kontext und gegebenenfalls der Änderungen eines Denkrahmens und eines Denkmodells. Diese werden nach wie vor und auf längere Zeit von uns Menschen vorgegeben werden. Widmen wir uns aber nun der zweiten Behauptung.

Schaffen wir damit eine Pseudoreligion?

In einer Sendereihe, die den Glauben und den Zweifel als Leitmotiv im Titel hat, ist es kaum überraschend, dass theologische Fragen behandelt werden. Deshalb scheint es den Protagonisten logisch, die Technologie kurzerhand auf die Stufe einer Religion zu stellen. Nur ganz will man es ihr nicht gestatten, sie wird mehr als Götzenbild und Pseudoreligion behandelt. Dabei wird Zweifel an der Richtigkeit des Glaubens an die Daten und Algorithmen und dem Vertrauen der Menschen in diese vorgebracht. Gleichzeitig wird derselbe Zweifel an eine „echte“Religion wie dem Christentum – und einem Gott nicht angewandt. Ganz im Gegenteil: das Abwenden von einer „echten“ Religion hin zu einer „falschen“ Religion wie dem künstlich als Feindbild geschaffenen Dataismus wird missbilligend beäugt. Dabei ginge der Sinn des Lebens verloren, wenn die Menschen nur mehr Daten anbeten und damit selbst zu „Computern“ würden.

Nur: was ist tatsächlich realer? Der unsichtbare Freund im Himmel, den die Christen anbeten, oder die Daten, die von Wissenschaftlern und anderen gesammelt wurden, und uns nun als bessere Entscheidungsgrundlage vorliegen? Bete ich zum Herrgott um Erlösung von der COVID-Pandemie, oder vertraue ich doch den Datensequenzierungen durch Computer, die uns dann Impfstoffe gegen das Virus schaffen lassen? Ist der Sinn des Lebens, passiv ein Wunder durch Götter erhoffen, oder aktiv das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und das Problem anzupacken?

Quarch warnt uns vor der Gefahr, dass wir durch den Dataismus den Sinn des Lebens verlieren würden, und schreibt einzig und allein echten Religionen die Kompetenz für die Vermittlung des Sinns zu. Doch das wüsste ich nun auch gerne? Was haben die Religionen in den tausenden von Jahren uns eigentlich dazu vermittelt? Wenn sie sich den alleinigen Anspruch dazu anmaßen, dann haben sie für die Mehrheit der Menschen eine recht schlechte Bilanz vorzuweisen.

Conclusio

Die Sendung beantwortet die große Leitfrage vor allem einseitig, und damit unzureichend. Trotz 25 Minuten zu Verfügung stehender Zeit dreht man sich im Kreis, wiederkäut man seine einseitigen Argumente und fühlt sich als jemand mit Technologiekenntnissen Ausgestatteter betrogen, wie es auch Philosophen und Historikern eigentlich ergehen müsste, die sich nur ein bisschen die Mühe zu Technologiephilosophie- und Technologiehistorie machen. Ich bin kein Historiker, aber ich habe ausreichend Daten aus der Geschichte gefunden und hier zitiert, die Yuval Hararis Argumente widerlegen. Auch Quarchs Warnungen klingen schal und einseitig. Einseitig, weil sie mit der versteckten Agenda vorgebracht werden, dass die „richtigen“ Religionen vor künstlich von ihm (und Harari) so geschaffenen Pseudoreligionen als Feindbilder kreiert werden, um sich moralisch ihnen überlegen zu fühlen.

Damit ist es den Radiomachern und Gästen misslungen, die eigentliche Frage befriedigend zu beantworten, oder generell Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Religion und Philosophie entfernen sich damit immer mehr, einen konstruktiven Beitrag zu den großen Fragen der Menschheit zu leisten. Das bedauerte schon 2014 in einem Podcast der bekannte Astrophysiker Neil deGrasse Tyson:

Meine Sorge dabei ist, dass die Philosophen glauben, sie würden tatsächlich tiefe Fragen über die Natur stellen. Aber in Wirklichkeit sind sie keine produktiven Mitwirkenden an unserem Verständnis der natürlichen Welt … Ich bin also enttäuscht, weil es dort eine Menge Intelligenz gibt, die andernfalls einen mächtigen Beitrag hätte leisten können, es aber heute einfach nicht tut. Es ist nicht so, dass es keine anderen philosophischen Themen geben könnte, es gibt Religionsphilosophie, ethische Philosophie und politische Philosophie, viel zu tun für Philosophen, aber die Grenze der physikalischen Wissenschaften scheint nicht darunter zu sein.

Die LOGOS-Sendung ist übrigens nur bis 29. Juni 2021 verfügbar.

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