Die Kunst der großen Wette

Es war mitten während des Zweiten Weltkriegs, als Edwin Land, der Chef und Mitgründer der 1932 gegründeten Land-Wheelwright Laboratories, mit seiner Familie auf Urlaub in Santa Fe im US-Bundesstaat New Mexico auf Urlaub weilte. Land war privat und beruflich in Fotografie vernarrt. Als er ein Foto seiner dreijährigen Tochter machte, lief sie zu ihm und wollte das Bild betrachten. Lands Antwort, dass das Foto erst entwickelt werden müsse, befriedigte die Tochter nicht. „Warum kann ich es nicht sofort sehen?“[1]

Diese nur scheinbar naive Frage brachte Land zum Nachdenken und nach vielen Jahren Forschung, gescheiterten Versuchen, viel investiertem Geld und noch mehr an Frust konnte Land 1972, satte 29 Jahre nach dem Urlaub in Santa Fe, endlich seinen Vorstandsmitgliedern die Sofortbildkamera vorstellen. Wie sicherlich bereits erraten, spreche ich hier von Polaroid. Land konnte sich als Eigentümer und Chef des 1937 auf Polaroid umbenannten Unternehmens die Zeit nehmen, an dieser Technologie zu tüfteln, auch wenn er nicht sicher sein konnte, ob für so ein Produkt überhaupt ein Markt bestünde. Den einzigen Kunden, den er im Auge hatte, war seine Tochter gewesen.

Doch Land hatte ein unerfülltes Bedürfnis und damit einen Markt erkannt, den ihm Marktforschungsstudien so nie offenbart hatten. 1977, im Jahr der Einführung, verkaufte Polaroid sechs Millionen Kameras und sollte jahrzehntelang ein Verkaufsschlager bleiben und Kult werden.

Diese Kunst der ‚Big Bet‘ – der ‚großen Wette‘ – bei der (fast) alles auf eine Karte für eine verrückte Idee gesetzt wird, ist, was sie ist: riskant und durchgeknallt, und wenn sie gelingt, wusste später jeder, dass diese Idee ohnehin offensichtlich war und nur Erfolg haben konnte. Gründer und Firmenchefs wie Edwin Land, Steve Jobs oder Elon Musk gefallen sich dann auch darin, zu behaupten, sie hätten keinerlei Marktforschung betrieben. Elon Musk meinte bei einem Interview bei einer Veranstaltung der U.S. Air Force: „Ich mache überhaupt keine Marktforschung.“

Doch das ist natürlich so nicht richtig. Sicherlich geben sie keine Studie in Auftrag, die Marktbedürfnisse zu erfassen versucht. Wenn man fast 30 Jahre an einer Sofortbildkamera forscht, kann man die Motivation wohl nur durch die Bestätigung potenzieller Kunden, die Interesse daran bekunden, beibehalten. Auch Apple-Gründer Steve Jobs, der vollmundig meinte, „Kunden wissen nicht, was sie wollen“, betrieb sehr wohl Marktforschung, aber auf seine Art. Immer wieder mischte er sich unter Kunden in seinem Apple Store auf der University Avenue in Palo Alto, ließ sich vorführen, wie sie die Geräte bedienten, welche Fragen sie hatten, und hörte vor allem genau hin, wonach sie fragten. Auch hatte sein Designteam um Jonathan Ive durch Interaktionen mit Kunden ein gutes Gefühl dafür gekriegt, dass beispielsweise ein Gerät wie das iPhone von den Kunden gewünscht wurde, und entsprechend taktisch ging das Team vor, um Jobs, der anfänglich skeptisch war, davon zu überzeugen.[2]

Tesla-Chef Elon Musk wiederum ist für seine Tweets bekannt, wo er aktiv Eingaben seiner Nutzer lauscht. Allein der Cybertruck, ein futuristisch und ungewohnt aussehender elektrischer Pickup-Truck, mag niemals aus einer Kundenbefragung hervorgekommen sein, aber dafür ließ er Tausende Tweets von potenziellen Kunden mit Funktionswünschen aufnehmen. Innerhalb weniger Tage lässt Musk gelegentlich Änderungen an der Software für bereits ausgelieferte Fahrzeuge vornehmen, wenn ein Kunde eine für Musk sinnvoll erscheinende Funktion vorschlägt.

Mit anderen Worten: Die oben Genannten – und es gibt noch viel mehr von ihnen – machen zwar keine formalen Marktstudien im klassischen Sinn und sie verlassen sich in Zeiten von Big Data für diesen Zweck nicht ausschließlich auf die Daten, die ihnen vorliegen. Aber sie sind durch andere Kanäle eng mit dem Puls der Zeit verbunden und vertrauen ihrem Gespür, dass sie an ‚etwas dran sind‘, das eine marktändernde oder einen Markt schaffende Charakteristik hat. „Der Kunde weiß nicht immer, was er will“, wurde schon zu Henry Fords Zeiten zum geflügelten Wort.

Poker spielen mit der KI

Das geht nicht immer gut. Amazon-Chef Jeff Bezos versuchte, in den Smartphone-Markt mit einem eigenen Gerät einzudringen. Doch das ‚Fire Phone‘ verkaufte sich so schlecht, dass Amazon bis heute keine Verkaufszahlen offengelegt hat. Ein Mitarbeiter wurde zitiert, dass Bezos so viel intervenierte, dass am Ende das Fire Phone für die Ansprüche eines einzigen Kunden entwickelt worden war: Jeff Bezos selbst.

Waren die bisher genannten Beispiele aber wirklich große Wetten, die mit viel Risiko verbunden waren? Eine Idee, für die es bisher keinen Markt, keine Kunden und kein Geschäftsmodell gibt, haben viele Start-ups. Doch die allermeisten scheitern daran. Diese erwähnten Ideen waren auch von großem Ressourceneinsatz geprägt, den Unternehmen wie Polaroid, Apple, Amazon und Tesla aber stemmen konnten, weil sie mit anderen Produkten erfolgreich sind und ihr Geld verdienten. Herzinfarktfördernd wird es dann, wenn dabei das Unternehmen selbst auf dem Spiel steht oder der finanzielle Ruin des Gründers droht. Und da ist der momentane Meister aller Klassen in der Kunst der großen Wette Elon Musk.

Nachdem er mit dem Verkauf des von ihm mitgegründeten Bezahldienstleister PayPal mehrere hundert Millionen verdient hatte, steckte er fast alles in drei Unternehmen: in ein Elektroauto-Start-up namens Tesla, in das von ihm gegründete Raumfahrtunternehmen SpaceX und in den Solarzellen- und Batteriespeicherproduzenten SolarCity. Alles Unternehmen, die in Märkten operieren, die es bis dahin entweder nicht gab oder in denen vermeintlich keine Chance bestand. Und tatsächlich stand Musk sowohl mit Tesla als auch SpaceX mehrere Male kurz vor dem Aus. Die ersten drei SpaceX-Raketenstarts waren fehlgeschlagen und einen vierten Absturz konnte das Unternehmen finanziell nicht mehr überleben. Der vierte Start gelang und der Rest ist Geschichte. Mindestens zweimal stand Tesla vor der Pleite und erst das eigene letzte Geld und Investoren, die in buchstäblich letzter Minute nochmals Geld nachschossen, retteten das Unternehmen.

Dieses „Alles oder nichts“ ist nichts für Deutsche. Man fände dafür kein Verständnis in einem Kulturkreis, in dem vorab alles geplant und versichert sein will. Man kann sich heute nicht mal mehr für Kleinstinvestitionen erwärmen, wie der deutsche Start-up-Investor Frank Thelen gegenüber Christoph Keese schilderte. Er würde immer wieder von Eigentümerfamilien großer deutscher Unternehmen eingeladen, seinen Investitionsfonds für Hightech-Start-ups, ‚Freigeist Capital‘, vorzustellen und zu erläutern, wie Investitionen in Start-ups funktionierten. Doch fast gar keine Family Offices würden tatsächlich investieren, obwohl es sich für sie um vergleichsweise geringe Beträge und somit wenig Risiko handelt. Nicht nur die Kunst der großen Wette wird bei uns nicht beherrscht, nicht mal eine kleine Wette wird eingegangen.

Die Gründe sind mannigfaltig. Zuerst mal sind Family Offices keine Unternehmer. Sie sind Manager des geerbten Familienvermögens und Familienunternehmens. Manager wiederum sind nicht auf ihre Position gekommen, weil sie viel Risiko eingegangen sind, sondern weil sie das am besten vermieden haben. Unternehmer nehmen ein persönliches Risiko auf sich, sie stecken mit all ihrem Vermögen drin. Die Erben haben vor allem die Angst, dass ihre Generation das von den Gründern aufgebaute Unternehmen verliert und somit ‚versagt‘ hat. Diese Angst kann eine Familie vor dem Handeln lähmen, sie kann sie aber auch erst recht aktivieren und das Beste aus ihnen hervorholen.

Abhängig von der Geschichte der Unternehmerfamilie dominieren gewisse Führungsstile. Gab es Nahtoderlebnisse des Unternehmens? Wie verstehen sich die Familienmitglieder und wie groß sind die Konflikte und Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen? Wie erfolgreich ist das Unternehmen? Geht momentan alles gut oder sieht man Wolken heraufziehen? Selbst wenn ein Family Office handeln möchte, kann es sein, dass ihnen das Wissen zu solchen Wetten fehlt. Ein Hightech-Start-up ist anfänglich mit anderen Kennzahlen zu bewerten. Wenn der Markt, das Produkt, die Dienstleistung und das Geschäftsmodell nicht bekannt sind, kann nicht sofort ein ROI und Profitabilität eingefordert werden, sondern es muss dem Start-up Zeit gelassen werden, diese zu identifizieren. Die dazu benötigten Wirtschaftskennzahlen und Vorgehensweisen werden an unseren Wirtschaftsunis aber nicht gelehrt.

Die kleinen Wetten sind einfach. Inkrementelle Verbesserungen an bestehenden Produkten wie etwa eine andere Geschmacksrichtung bei einer Suppe oder fünf Prozent weniger Verbrauch von Klebstoff bei diesem Produktionsprozess zeigen bei dieser Art von Änderungen unmittelbare Ergebnisse. In einen völlig neuen Markt mit einem neuen Produkt eindringen oder gar die alte Produktpalette verwerfen und durch eine neue zu ersetzen, erscheint als Wahnsinn.

Tatsächlich sehen wir aktuell ein bekanntes deutsches Familienunternehmen eine solch große Wette eingehen: Volkswagen. Nach einigem Hin und Her und nicht unwesentlich motiviert durch einen großen und milliardenschweren Skandal hat sich das noch immer von der Gründerfamilie beherrschte Unternehmen entschlossen, konsequent ihr Produkt von Verbrennungskraftmotoren auf Elektromobilität umzustellen. Das geht nicht ohne Reibung in einem sehr politischen Unternehmen mit mehr als einer halben Million Mitarbeiter. Wie auch immer diese Wette ausgehen wird, Volkswagen und die anderen großen deutschen Hersteller werden damit auf jeden Fall in die Lehrbücher eingehen, so wie Polaroid es in mehrfacher Hinsicht ergangen ist. Dieselbe große Wette, die so gut mit der Polaroidkamera funktioniert hatte, scheiterte nämlich kläglich mit ‚Polavision‘, einer zweieinhalbminütigen, selbst entwickelnden Videokassette. War die Sofortbildkamera noch in einen unbesetzten, neuen Markt eingedrungen, so sah sich Polavision mit den aufkommenden Videokameras einer übermächtigen und technologisch fortschrittlicheren Konkurrenz ausgesetzt.


Dieser Beitrag ist ein Auszug aus meinen am 19. August erscheinenden Buch Future Angst. Es kann bereits hier vorbestellt werden.


[1] Safi Bahcall; Loonshots: How to nurture the crazy ideas that win wars, cure diseases, and transform industries; St. Martin’s Press, New York, 2019

[2] Brian Merchant; The One Device: The Secret History Of The IPhone; Little Brown, 2017

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