Sphexishness ODER Die Fähigkeit bzw. Unfähigkeit zu einer Verhaltensänderung

In der Buchhandlung Morawa auf der Wollzeile in Wien bricht ein Mann auf den Knien zusammen, hebt die Hände in die Höhe und beklagt sich lauthals über Unerhörtes. Was war geschehen? Die Traditionsbuchhandlung, die sich gleich gegenüber der französischen Bäckerei Parémi, die Wiens bestes Croissant anbietet, befindet, hatte die Frechheit, neue Regale einzubauen und dabei auch gleich die Anordnung der Buchkategorien neu zu sortieren.

Nun kniete der leicht beleibte, etwa 70-jährige Herr in einem etwas zu weiten Anzug, vor dem Buchhändler und moserte über das Umschlichten, das es ihm nun unmöglich machte, Bücher zu finden. Er ließ den Buchhändler, der ihm helfen wollte und ihm sagte, dass er sich doch mit Fragen an ihn wenden könne, nicht zu Wort kommen. Der Einkaufskorb mit ausgewählten Büchern stand neben dem Knieenden, während andere Angestellte sich nicht heranwagten und die Szene aus der Ferne beobachteten.

Wir haben schon erwartet, dass es Fragen geben wird, aber dass jemand so auf die Umschlichtung reagiert, damit haben wir nicht gerechnet…

…flüsterte mir eine Verkäuferin zu. Diese Änderungen hatten den Kunden so aus der Fassung gebracht, dass er einen Wutanfall hatte.

In meinem Bekanntenkreis, der sich mit Innovation und Veränderung beschäftigt und diese als etwas Notwendiges und Gutes, und vor allem als einzige Konstante im Leben sieht, ist zwar bewusst, dass mancheiner Veränderung als etwas Unsicheres und Beunruhigendes erlebt, aber er ist sich sicher, dass mit ein bisschen Hilfe diese letztendlich angenommen wird. Und dann gibt es Leute, die wie der Kunde in der Buchhandlung einen Wutanfall erleben, wie sie sonst nur von Dreijährigen bekannt sind.

Eine Routine kann etwas sehr Beruhigendes haben. Menschen mit Zwangsstörungen empfinden sie als vorhersehbar und vertraut. Sich besessen die Hände waschen, mehrmals überprüfen, ob die Türe wirklich abgeschlossen wurde, oder die exakte Einhaltung der Uhrzeit, zu der gegessen wird. Eine kleine Änderung, und das Leben fühlt sich bei diesen Menschen wie auf den Kopf gestellt auf. Das ist für jeden von uns nachvollziehbar, wenn wir einen Vergleich machen: einfach mal die eigene Routine beim Aufstehen ändern. Nicht zuerst einen Kaffee machen, nicht die Zähneputzen, Duschen oder auf die Toilette gehen, sondern völlig schräg anfangen. Und dann sich dabei beobachten, wie der Tag läuft. Der ganze Tag scheint misslungen. Genauso fühlt sich für diese Menschen an, denen selbst kleine Veränderungen bereits den Schweiß ausbrechen lassen.

Dabei kann es auch zu einem interessanten Effekt kommen. Um wieder mit sich ins Gerade zu kommen, versuchen sie, die Routine zu wiederholen oder wieder aufzunehmen, mit der Hoffnung, dass der Tag doch noch gelingt und die Welt wieder in den gewohnten Bahnen läuft. dabei werden die geänderten Bedingungen beinhart ignoriert, wie auch, dass die übliche Routine nun weniger oder überhaupt keinen Sinn mehr macht.

Bei der Sphex, einer Gattung der Grabwespe, wurde eine solche Routinenwiederholung beobachtet, die scheinbar kein Ende nehmen will. Diese gräbt eine Loch, legt ihre Eier hinein, fängt ein Insekt, das es mit ihrem durch den Stachel injizierten Gift lähmt, und legt das Insekt als Futter für die später aus den Eiern schlüpfenden Jungwespen in das Loch. Dann schüttet sie das Loch mit Erde zu.

Doch während sie das Grab ein letztes Mal überprüft, hat ein Forscher das Insekt um einige Zentimeter vom Loch entfernt. Die Wespe kommt heraus, sucht das Insekt, schleppt es wieder zum Loch, und beginnt neuerlich die Inspektion des Grabes. Zwischenzeitlich entfernt der Forscher das Insekt wieder um einige Zentimeter. Der Ablauf wiederholt sich dutzende Male, die Wespe scheint in eine Endlosschleife ihrer Routine zu geraten.

Douglas Hofstadter nannte diese Inflexibilität im Angesicht der Änderung Sphexishness, nach der Grabwespe. Sphex ist dabei im Altgriechischen die Bezeichnung für Wespe.

Auch der Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz beobachtete bei seinen Graugänsen einen solchen Effekt. Fällt ein Ei während der Brut aus dem Nest, dann rollt die Muttergans dieses mit dem Schnabel wieder in ihr Nest zurück. Lorenz entfernte das Ei während des Rettungsversuches, doch die Graugans setzte die Routine ihrer Rettungsaktion bis zum Ende fort, auch wenn sie dabei kein Ei rollte.

Dieses Verhalten wird durch einen Schlüsselreiz ausgelöst. Hier ein aus dem Nest gefallenes Ei, dort ein Insekt, das die Wespe an das Loch geschleppt hat. Dabei wird ein angeborenes Verhaltensprogramm gestartet, das auch durch eine Veränderung nicht abgeändert und sogar wiederholt wird. Aus diesem Verhalten kann nach einigen Wiederholungen ausgebrochen werden, doch die Anzahl der Wiederholungen kann stark schwanken. So wurden bei den Wespen 50 und mehr Male das Verhalten wiederholt ausgeführt.

Unserem Buchliebhaber war die geänderte Regalanordnung aber zu viel. Es warf ihn so aus seiner vertrauten Gewohnheit, dass er nicht anders zu reagieren wusste, als in einen Wutanfall auszubrechen. Und in diesem blieb er stecken. Ich hörte ihn noch minutenlang wehklagen, sich niederknien und auf den Boden werfen.

Um Menschen die Angst oder Unruhe vor Veränderungen zu nehmen, ist auf den Grad der Sphexishness einzugehen. Wie offen oder verschlossen sind einzelne Mitarbeitende gegenüber Veränderungen? Welche und wie viele Schritte müssen vorgenommen werden, um die Mitarbeitenden mitzunehmen? Was sind die geeigneten Maßnahmen und wie weitreichend sind die einzelnen Schritte, die sie aus der alten in eine neue Routine bringt? Manchmal hilft es, den neuen Routinen einen Anstrich der alten zu geben. Ansätze wie der Skeuomorphismus, bei dem beispielsweise beim iPhone die Telefonbuch-App noch ein physisches Telefonbuch imitierte, können dabei helfen.

Hätte das unserem Buchkunden geholfen? Wohl kaum, denn hier handelte es sich nicht um eine neue Technologie, die ein neues Herangehen erforderte, sondern schlicht und einfach um eine Neuordnung der Bücher und Kategorien in der Buchhandlung. Und die kognitive Leistung, neu zu suchen oder einen Buchhändler zu fragen, wollte er nicht aufbringen. Vielleicht aber war er einfach nur am Ende seiner Willenskraft, sei es weil es ein langer Tag gewesen war, oder er einfach noch nicht gegessen hatte. Und das kann die Fähigkeit zur Veränderung auch behindern.

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